[Squeak-ev] Squeak-EToys mit meinen Kindern - Woche 4

Harald M. Müller harald_m_mueller at gmx.de
Fre Okt 22 07:49:26 UTC 2004


[Erstes Mal gesendet am 10.10.2004]

Hallo -

Letzte Woche haben wir uns den "straight line programs" zugewandt - also
eigentlich dem "klassischen Programmieren". Ich muss noch etwas
nachdenken, ob das eine gute Idee war und wo es hinführt ... jedenfalls
haben wir jetzt zwei Stunden damit verbracht.

Die erste Aufgabe war simpel: "Bringe das Auto dazu, dass es ein L
malt".

Dazu haben wir uns die Stifte-Befehle angesehen und einmal damit
herumgespielt. Dann habe ich beide ein leeres Skript herausziehen lassen
und mit "gehe vorwärts"- und "drehe dich"-Befehlen befüllen lassen. Das
hat gedauert: Denn die "atomare Betrachtungsweise" kommt erst ganz
langsam; z.B. das Verstehen, dass "drehe dich um" *nicht* bedeutet, dass
man dann gleich weitergeht, sondern nur ein Auf-der-Stelle-Drehen ist.
Aber gegen Ende der Stunde war das dann klar ... andere Dinge bieten
aber Anlass zu Kritik:

15. Es gibt keine Einheiten. Bei den Winkeln haben Lukas (4. Klasse
Grundschule) und ich Katrin (3. Klasse) erst einmal die Winkel erklären
müssen: 90 Grad ist ein rechter Winkel, 180 Grad ist Umdrehen usw. Ab
dann hat Katrin auch gesagt "gehe vorwärts um 100 Grad" ... das darf
nicht sein. Wenn EToys Science (u.a.Physik) für Kinder rüberbringen
wollen, müssen die Einheiten vorhanden und korrekt sein (wie man die
"Pixel-Einheiten" beim Vorwärtsgehen nennen soll? Keine Ahnung ... wie
wär's damit, sich Einheiten von Angstrom bis Lichtjahre aussuchen zu
dürfen und "irgendwo" einen Maßstab einstellen zu können?!).

16. Natürlich habe wir mit der Stiftgröße (und Katrin auch mit allen
Farben) gespielt: Bei Stiftgröße 111111 hat sich Squeak dann über
OutOfMemory beschwert ... Sollte man vielleicht abfangen.

17. Das true/false für Stift unten/oben ist unschön ... aber ich denke,
das ist das Übersetzungsproblem.

18. Steppen durch EToys-Skripts wäre ganz wichtig - geht vielleicht
sogar :-), habe ich aber noch nicht erforscht. Ich muss mir einmal Zeit
für Wikis nehmen ...


Als Hausaufgabe gab es dann andere Buchstaben - für Lukas ein K, für
Katrin ein N. Lukas hat dann im Lauf der Woche alle "seine" Buchstaben L
U K A S (eckig) "programmiert", Katrin hat das M zusammenmontiert. 

Gestern haben wir dann noch weiter mit Skripts herumgespielt: Lukas mit
dem "do"-Befehl, um ein L und ein U hintereinanderzuschreiben - das
"Zwischenskript" mit Heben des Stifts, zum Beginn des U fahren, sich
richtig gedreht hinstellen und wieder runter mit Stift war gar nicht so
leicht! Katrin hat sich mehr dem Malen hingegeben und ein M (bzw. W)
immer wieder in vielen Farben übereinandergestapelt (d.h. von ihrem
"Buntauto" stapeln lassen).

... und ich weiß keine Hausaufgabe und kein Thema für nächste Woche ...
spätestens morgen muss ich das liefern!

--------------

Aber ich habe eine andere und (wie ich finde) tiefschürfende Frage, die
ich hier nur kurz anreiße:

Zuerst einmal eine kleine Geschichte von letzter Woche: Da hat Katrin
ihr L gemalt und, weil sie noch in der "Automatik-Welt" der Autos war,
das Skript auf laufend gesetzt. Mit einem 90-Grad-Winkel entsteht dann
in kürzester Zeit ein Quadrat, über das das Buntauto herumsaust.
Nun hat Katrin den Winkel auf 89 Grad verstellt - und siehe da: Es
entsteht langsam ein "dicker Kreis". Dasselbe passiert auch bei 91 Grad
und bei anderen Winkeln.
"Wieso?" - fragen Katrin und Lukas.

Ich habe es ihnen *nicht* erklärt - denn das, was da passiert ist, ist -
behaupte ich einmal - ein Beispiel für 

* ein "emergentes Verhalten eines dynamischen Systems"; und für
* einen Fixpunkt (Attraktor) einer (mathematischen) Folge; und für
* einen großen Unterschied zwischen der Einfachheit eines Generators
(das "leicht verbogene L") und der Komplexität und
Ganz-anders-Geartetheit des "Limes" in seiner "geschlossenen Form" (der
"dicke Kreis"); und für
* (in diesem Sonderfall) ein labiles Gleichgewicht eines dynamischen
Systems (jede kleine Abweichung von 90 lässt das Quadrat verschwinden)

(und es gibt sicher noch viele andere Sichten auf diesen Effekt).

Nun ist das wahrscheinlich das komplizierteste, was uns in der
Mathematik und Physik (und Biologie und Chemie) passieren kann - aber
auch in der wirklichen Natur das wichtigste. Alle "simplen, linearen,
stabilen Effekte, wo Ursache und Wirkung von gleicher Komplexität sind,"
sind für 4 Bereiche ausgespart:

a. die Schulmathematik 
b. das Squeaklernen mit Kindern
c. die Historie der Physik ab Galilei bis ca. 1950 (vor den Laser)
d. die Ingenieursdisziplinen, insbesondere die ganze technische und
praktische Informatik.

Das ist ein "bold statement" - weiß ich -, aber ich denke, es ist wahr.
Ganz kurz zu den einzelnen Punkten, von hinten nach vorn:

Ad d. Eine Wette: Ich wette, dass es in Programmen, die tatsächlich im
Einsatz sind, nirgends ein Statement von folgender Form gibt:
	n := n + array[n];
(mit der Ausnahme stochastischer Algorithmen, die "irgendeine
Herumrechnerei" brauchen - z.B. Kollisionsbehandlung in Hashtabellen;
aber sogar dort ist soetwas eher lächerlich als sinnvoll; und natürlich
von Simulationen realer physikalischer usw. Systeme). Der Grund: 
      n := array[n]; 
könnte man als "dynamisches System mit Rückkopplung auf sich selber"
interpretieren. Es könnte aber auch (siehe z.B. Donald Knuths
Implementierung von TeX) ein "Pointer-Surrogat" sein, wo n ein
"uninterpretierter" Pointer ist. Damit ich das auch noch ausschließe,
nehme ich 
	n := n + array[n];
- hier ist n nun doch mit Zahlensemantik behaftet. Soetwas wird von
Ingenieuren wie die Pest vermieden, weil man die zugehörige Invariante
sich nicht mehr vorstellen und nicht mehr verifizieren kann.

Ad c. Ich vermute, dass der große Durchbruch der Physik um Brahe,
Galilei und dann Newton war, ein "Verfahren" hervorgebracht zu haben,
dass genau die Beispiele des emergenten, Fixpunkt-, usw.-Verhaltens aus
der Physik *ausschließt* - und einmal nur "einfache", "polynomielle"
Zusammenhänge behandelt. Damit ist die reale Welt in weiten Strecken
außen vor - aber der Rest (insbesondere das Universum) wird in weiten
Strecken "behandelbar". Das erst hat Aristoteles mit seiner Betrachtung
der realen Welt wirklich entthront.
Erst mit dem Laser (oder vielleicht in der Nähe dazu) hat die
mathematische und analytisch-physikalische Betrachtung emergenter
Phänomene gestartet (vielleicht gibt's Ausnahmen und Spezialfälle früher
- würde micht interessieren, wenn da jemand was weiß) ...

Ad b. Emergentes Verhalten ist lustig - aber (klassische) "Science" kann
man damit nicht lernen: Dazu muss man wohl den Weg der Naturwissenschaft
von Galilei angefangen nachgehen ... oder nicht? Ich bin zu "klassisch"
geprägt und kann die Formeln der klassischen Physik zu gut (und kann
damit auch vieles berechnen); und ich bin in meinem Beruf als
Software-Ingenieur darauf getrimmt, "lineares" und
nachvollziehbares=testbares Verhalten zu erzeugen (von Analyse über
Design zu Implementierung), als dass ich einen anderen Weg sehen würde.
Ich fürchte auch, dass sonstige "alternative Wege zur
(Natur-)Wissenschaft" eher aus Ecken wie Waldorf/Steiner oder falsch
verstandenem/anders instrumentalisiertem Montessori-Cliquen usw. kommen
- aber das ist jetzt eine grobe Unterstellung, gegen die ich gerne
konkrete Gegenbeispiele hätte.

Ad a. Auch die Schulmathematik muss - aus Verständnis- und
Prüfbarkeitsgründen - alle "nicht-linearen", "emergenten" Systeme
verbannen oder zumindest in "Nischen" (letztes Sechstel einer
Arbeitsgemeinschaft) verstecken ...

Ein negativer Gedanke: Ich fürchte, dass diese Aspekte ein Beibringen
von Science, Mathematik, Physik, Naturwissenschaft.
Wissenschaftsverständnis usw.usf. in der Schule oder zu Hause *mit
Squeak/EToys* um nichts einfacher machen als *ohne Squeak/Etoys*: Denn
es muss wieder die reale Welt von der "Schulwelt" geschieden werden, und
wieder werden viele Kinder die Freude an der künstlichen, machbaren Welt
nicht mitmachen, weil sie den langen Weg zur Wirklichkeit (in der Physik
mehr als 350 Jahre) nicht sehen.

Ein positiver Gedanke: Aber allein die Möglichkeit, sich der gleichen
"künstlichen Welt" ganz andersartig nähern zu können, macht diese
Gebiete für viele Kinder zugänglich, die bei den Tafel-, Vortrags-,
Schulbuchmethoden gar keine Möglichkeit hatten, einen "intuitiven Spaß
an der Sache" zu bekommen.

Aber der negative Gedanke überwiegt bei mir ...

... Ende der roh hingeschriebenen Gedanken zu einem abseitigen oder doch
nicht so abseitigen Thema ...

Regards
Harald


-------------- nächster Teil --------------
Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt...
URL: http://lists.squeakfoundation.org/pipermail/squeak-ev/attachments/20041022/485c2e8e/attachment.htm